Richtig Essen

GfE- Gesellschaft für richtiges Essen und Lebensgestaltung e.V.

Angst entsteht nicht durch Stress

Erstellt von r.ehlers am Sonntag 19. Juni 2016

„Angst ist für die Seele ebenso gesund wie ein Bad für den Körper.“                       Maxim Gorki

Produkt-Information

Hüther, „Biologie der Angst. Wie aus Streß Gefühle werden“, Vandenhoeck, 2012, 18,00 €.

Der Neurobiologe und Gehirnforscher Professor Dr. Gerald Hüther aus Göttingen erreicht mit seinen gut geschriebenen Büchern immer wieder ein breites Publikum, so auch mit den Bestseller über das Phänomen der Angst.  Hüthers Berichte über die neuen Erkenntnisse der Gehirnforschung sind absolut lesenswert. Zwar verstehen wir nicht einmal im Ansatz, was geistige Vorgänge wirklich sind. Wir sehen aber schon, dass je nach Art ihrer Aktivierung unterschiedliche Hirnareale beteiligt sind und können daraus einige konkrete Schlüsse und Gesetzmäßigkeiten ablesen.

Mehr aber weiß niemand so recht, auch kein Gehirnforscher und Neurobiologe.

Hüthers in das Gebiet der Tiefenpsychologie fallenden Schlussfolgerungen überzeugen letztlich nicht. Nach seiner Darstellung stehen Angst und Stress in einer festen Beziehung. Stress verursacht Angst und Angst verursacht Stress. Dieser bewirkt, dass bestehende Verschaltungen im Gehirn gelöst werden und neue Muster eingeführt werden können. Vorraussetzung ist nach Hüther das Gefühl der Liebe. Ist diese nicht vollständig, lernt der Mensch durch Ersatzhandlungen die Angst zu verdecken. Diese führen nach seiner Meinung leicht zu Unterwürfigkeit, Aufopferungsbedürfnis, zwanghafter Abhängigkeit, Eigensucht und Gefühlsarmut führen. Da wird viel zu viel unbelegt hineingerätselt und phantasiert!

Hüthers Fachkollegen gehen in diesen Fragen auch nicht mit ihm konform.

In der letzten Sendung von „Pelzig hält sich“, vertrat der Göttinger Psychiater und international führende Angstforscher Professor Dr. Boris Bandelow dezidiert die Meinung, dass Angst nicht durch Stress entsteht, s. http://www.essenspausen.com/lebensqualitaet-keine-angst-vor-dem-leben/. Auch Bandelow sieht, dass die Angst eines der stärksten Gefühle ist. Sie kann uns lähmen und krank machen. Sie gehört aber zu den notwendigen Herausforderungen im Leben, mit denen jeder für sich und auch eine ganze Gesellschaft  ohne krankhafte Störungen umgehen kann. Sie treibt uns sogar hier und da zu  Höchstleistungen an. Die Angst ist jedenfalls anders als Hüther meint, nicht der zentrale Faktor, von dem her erst alle anderen Gefühle wie unser gesamtes Selbsterleben erst erklärbar werden.

Im Netz findet sich eine sehr anschauliche Dokumentation der „Welt“, die Professor Bandelows deutliche Handschrift als Berater zeigt: http://www.welt.de/angst/experten/137300910 .

Ich gebe einmal den sehr lesenswerten kurzen Text wörtlich wieder:

„Ein Leben ist heute wackeliger als noch vor zehn oder 20 Jahren, beruflich und privat. Es spielt sich in anderen Räumen und Rahmen ab. Die Welt ist offener, größer und freier geworden. Es gibt andere Regeln und weniger Zwänge, zumindest in unserem Teil der Welt. Was früher ein Ehemann oder eine Ehefrau war, ist heute vielleicht ein Lebensabschnittspartner. Eine Stelle ist oft nicht das, was man ein Leben lang hat, sondern ein Vertrag, der für eine gewisse Zeit gilt. Das bedeutet Freiheit – und Unsicherheit. Beides ist nicht immer leicht auszuhalten.

Es gibt eine Reihe von Schlagworten, die die Zukunfts- oder Abstiegsängste der Deutschen umreißen. Sie sind mit dieser neuen Ordnung verbunden, jedes auf seine Art: Globalisierung, Finanzkrise, Eurokrise, Pisa, Rente mit 67, Scheidungsraten, demografischer Wandel, um nur einige zu nennen. Viele Entscheidungen, die Bundesregierungen in den vergangenen Jahren getroffen haben, kann man als Reaktion auf diese Ängste verstehen: der Mindestlohn, vor nicht allzu langer Zeit beschlossen; die Rentenpolitik in all ihrem Vor und Zurück; die Bildungsreform, die sich stark auf die Kompatibilität von Abschlüssen konzentriert.

Es sind genau jene Sorgen, die vermutlich die meisten Demonstranten teilten, die sich in Dresden und anderen Städten in den vergangenen Monaten durch die Straßen bewegten. Menschen, die vielleicht nicht in jedem Punkt die gleichen politischen Überzeugungen haben, schufen sich ein gemeinsames Forum. Eine deutsche Wirklichkeit, die die Politik der etablierten Parteien oft nicht mehr zu erreichen scheint. Weil sie diese Realität nicht kennt oder weil ihr die Ängstlichen die gemeinsame Wahrnehmung von Wirklichkeit aufkündigen und ihr keinen Zugriff mehr gewähren. Weil sie nicht mehr an Politik glauben.

Man kann es auch anders sagen: Eine diffus zusammenhängende Gruppe hat sich ein paar Wochen lang eine gemeinsame Stimme geschaffen – und eine Gemeinschaft. Was diese unterschiedlichen Menschen zusammengeführt hat, war gespeist von ihren rumorenden Ängsten – oder was sie dafür hielten. Nun, da sich zeigt, dass manche Teile dieser Gruppe Ängste vielleicht geschürt haben oder von Anfang an ganz andere Ziele hatten, scheint die Gruppe wieder zu zerfallen. Die Einsicht, dass es viele unterschiedliche Ideen davon gibt, was man gegen die gemeinsame Angst tun könnte, hat wohl dazu beigetragen, dass die Angst ihre Bindekraft verliert.

Und schließlich verbinden sich diffuse Ängste seit Jahren mit einer ziemlich konkreten: Die Gefahr eines Terroranschlags in Deutschland ist sehr real, wenn man den Sicherheitsbehörden glauben darf. Und das nicht erst seit dem Attentat auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“, das nach allem, was man bisher weiß, ein Attentat auf die freien Gesellschaften der westlichen Demokratien war. Dieser Terror soll Ängste schüren, das ist sein Instrument. Er zielt darauf ab, dass Menschen in Städten wie Berlin mit einem klammen Gefühl in die U-Bahn steigen. Oder sich bei jedem öffentlichen Papierkorb, an dem sie vorbeigehen, fragen, ob da eine Bombe drin sein könnte.“

Dazu will ich anmerken, dass die hier beschriebenen Ängste der Bürger nicht aus dem Nichts gekommen sind. Deutschland ist auf Wunsch wirtschaftlicher Kreise in Europa und anderswoher mit einer krassen Austeritätspolitik (Agenda 2010/Hartz IV) vorhergegangen, die breiten Schichten die wirtschaftliche Sicherheit wegnahm. Als nächste wurden die Griechen, Portugiesen und Spanier auf ähnliche Weise übel gebeutelt. Derzeit sollen sich die Franzosen Gleiches gefallen lassen und gehen zu Millionen dagegen auf die Straße (worüber prompt in Deutschland  nur wenig berichtet wird).

Die Regierungen haben zwar ihre Völker mit ihrer angeblich alternativlosen Sozialpolitik mächtig gestresst. Die Reaktion der Bürger beweist aber, dass sie sich davon nicht unterkriegen oder gar in psychische Probleme treiben lassen. Die Deutschen schlucken eher dreimal, bevor sie auf die Straße gehen und ziehen sich ins Private zurück, ohne deswegen depressiv zu werden. Die viel aufmüpfigeren Franzosen dagegen protestieren mutig in solchen Massen in allen Teilen des Landes, dass sich im Vergleich dazu das Aufbegehren der DDR-Bürger bei der Wende 1989 („Wir sind das Volk“) regelrecht bescheiden ausnimmt.

In den Bereichen der Psychoanalyse und der  Tiefenpsychologie hat es schon seit Siegmund Freud die Tendenz gegeben, eines der psychischen Phänomene  vor allen anderen in das Zentrum der Erkenntnisse zu stellen. Bestes Beispiel ist Freuds Annahme, dass sich alle menschlichen Gefühle von der sexuellen Libido ableiten lassen. Sein Schüler Adler antwortete darauf mit der einseitigen Behauptung, dass das Machtstreben der Kern aller weiteren Antriebe sei. Jung stellt dagegen neben das persönlich Unbewusste die zentrale Bedeutung eines angeblichen kollektiven Unbewussten (Archetypen wie Hexe und Teufel), das nach fast allgemeiner Meinung der ihm nachfolgenden Experten nicht hinreichend belegt ist. Alle solche monokausalistischen Versuche, aus einem Phänomen  heraus alle menschlichen Antriebe erklären zu wollen, haben langfrist keine „Follower“ gefunden. Das gilt auch für Hüthers Versuch, die Angst als den Urgrund der menschlichen Antriebe zu erklären.

Also: Keine Angst vor der Angst! Sie warnt uns und weckt in uns Entschlossenheit, Mut und Tapferkeit, drohenden Schäden zu entgehen oder ihnen wehrhaft entgegen zu wirken. Weil dieser Umgang mit der Angst unserer Natur entspricht, haben Psychologie, Psychiatrie und Prycholanalyse überhaupt Strategien entwickeln können, krankhafte Angst zu lösen. Einfache Wege aus der Angst gibt es leider nicht. Insbesondere kann man nicht auf nachhaltige Hilfen aus der Pharmazie hoffen.