Richtig Essen

GfE- Gesellschaft für richtiges Essen und Lebensgestaltung e.V.

Verrückt nach richtiger Ernährung?

Erstellt von r.ehlers am Sonntag 9. Februar 2014

Sachbezug:  Essstörung, Orthorexia Nervosa,  Bulimie, Anorexie, Orthomolekulare Medizin

 Wenn jemand anders isst und lebt als bisher, wird das von seinem Umfeld meist gar nicht positiv aufgenommen. Da erlebt man immer wieder solche Reaktionen wie diese:

„Na ja, Moni hat ja viel abgenommen mit ihrer Sache da, aber einen kleinen Knall hat sie ja schon immer gehabt.“

Seit einigen Jahren wird in der Medizin eine neue Krankheit diskutiert. Ihr Entdecker, vielleicht auch nur ihr Erfinder, ist der amerikanische Mediziner Steven Bratman,  der seine Erkenntnisse über das bis dahin unbekannte  angeblich pathologische Phänomen 1997 öffentlich machte.

Er beschreibt eine neue Art von Essstörung, der Bratman den Namen

Orthorexia Nervosa

gab. Er beschreibt sie als eine rein psychische Zwangsstörung die anders als die bekannten Essstörungen Anorexie und  Bulimie nicht allein auf die Menge des aufgenommenen Essens fixiert ist, sondern eine krankhafte Fixierung darauf bedeutet, immer das Richtige zu essen. Der Begriff ist abgeleitet von den griechischen Wörtern „orthos“, was „richtig“ heißt und „orexis“, was der Appetit ist. Ähnlich hat die Medizin, die Wert auf den richtigen Einsatz der richtigen Mikronährstoffe (Moleküle) zum Zwecke der Heilung legt, den Namen Orthomolekulare Medizin bekommen. Diese Medizin hat aber mit der von Bratman ge- oder erfundenen Krankheit absolut nichts zu tun.

Die armen Betroffenen, die auf nicht mehr normale Weise auf das richtige Essen aus sind, nennen Bratman und seine Anhänger Orthorektiker. Wer indes Orthorektiker ist, ist von außen nicht leicht zu erkennen, weil sich jeder Betroffene zwanghaft auf unterschiedliche Lebensmittel stürzt. Weil die Werbung immer neue Zutaten als unverzichtbar propagiert, wechseln die bevorzugten Lebensmittel bei vielen dieser Orthorektiker auch immer wieder. Gestern waren es noch z.B. Ginseng, Heilpilze, diverse Algen, Noni, Goji und Aloe, heute sind es u.a. Maca, Aronia, Astaxanthin und  Moringa.  Ins Bild passt, dass sie häufig ihre Nahrungsaufnahme noch ergänzen durch die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, bevorzugt Vitamin- und Mineralstofftabletten.

Symptom der Krankheit der Orthorexie soll nach der neuen Lehre das eiserne Einhalten selbst auferlegter Essensregeln sei, wozu es angeblich einer enormen Willenskraft bedürfte. Man könne die von der Krankheit Befallenen daran erkennen, dass sie ständig mit erhobenem Zeigefinger herumlaufen und versuchen, andere von der Richtigkeit ihres Essverhaltens zu überzeugen. Auf  Menschen,  die nach ihrer Erkenntnis „ungesund“ essen, blicken sie stolz von oben herab. Halten sie sich selbst nicht an ihre Regeln, werden sie von Schuldgefühlen beklagt und geißeln sich mit immer strikteren Essensregeln.  Schließlich isolieren sie sich immer mehr von ihrer Umwelt. Sie verwenden mehr und mehr von ihrer freien Zeit auf die Erstellung ihrer Ernährungspläne. Im fortgeschrittenen Stadium können sie gar nicht mehr regulär zusammen mit anderen Menschen zum Essen an einen Tisch kommen. Überall hin nehmen sie Notrationen von den Lebensmitteln mit, die nach ihrer Meinung gesund sind. Selbst in Hotels und Restaurants bestehen sie darauf, ihr Mitgebrachtes zu verzehren.

Experten wie der bekannte Lebensmittelchemiker Udo Pollmer  nehmen die nach seiner Meinung krankhaft Gesundheitsbewussten voll aufs Korn und fordert sie auf, endlich wieder „normal“ zu essen. Er hat erfahren, dass jeder seiner Versuche, sein eigenes Übergewicht anzugehen, erfolglos war und dass es den meisten Menschen so geht. Daher propagiert er, dass jeder Mensch das Gewicht hätte, das die Natur für ihn gedacht hätte, sodass man sich mit Essensregeln gar nicht abgeben müsste.

Steven Bratman einige Fragen als Selbsttest zusammengestellt:

  • Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
  • Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
  • Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?
  • Hat die Steigerung der angenommenen Lebensmittelqualität zu einer Minderung Ihrer Lebensqualität geführt?
  • Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?
  • Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
  • Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun „richtige“ Lebensmittel zu essen?
  • Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
  • Haben Sie durch Ihre Essensgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
  • Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?

Eine Orthorexie nimmt Bratman an, wenn vier oder mehr Fragen mit Ja beantwortet werden. Ich habe den Fragenkatalog hier einmal komplett wiedergegeben, allerdings nicht, weil ich die Fragen etwa klug fände, sondern weil sie so typisch hilflos sind wie die große Masse der Selbsttests, die in den Medien ständig vorgestellt werden. Geradezu albern ist die Frage nach der Steigerung des Selbstwertgefühls durch bewusste gesunde Ernährung und nach dem Verzicht auf frühere Esssünden.

Ich muss den Experten, die die Menschen als verrückt diffamieren, weil sie die in unserer Gesellschaft üblich gewordenen Fehler in der Ernährung bewusst nicht mitmachen,  nur an einem Punkte ein wenig das Wort reden:

Der Hype nach immer neuen spannenden Lebensmitteln und immer großartigen Inhaltsstoffen macht keinen Sinn. Das ist übertrieben.

Warum muss ich mich immer neuen Lebensmitteln zuwenden, die besonders viel von dem einen oder anderen Inhaltsstoff mitbringen? In anderen bequem verfügbaren Lebensmitteln ist er doch auch enthalten. Meist muss ich für dasselbe Ergebnis nur ein wenig mehr davon essen.

Wir tun gut daran, uns zu informieren, welche Ernährung für uns gut ist. Am Ende aber stellen wir unweigerlich fest, dass es nur wenige simple Regeln für ein der Gesundheit zuträgliches Essverhalten gibt – und absolut keinen Grund, das Essen als eine freudlose Beschäftigung zu betreiben. Wenn das dazu führt, dass wir tatsächlich nur mit eisernem Willen die von uns als richtig erkannten Regelen einhalten können, sind nur die Regeln falsch und müssen überdacht werden.