Richtig Essen

GfE- Gesellschaft für richtiges Essen und Lebensgestaltung e.V.

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Erstellt von r.ehlers am Mittwoch 3. Mai 2017

Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?: Die Hirnforschung entdeckt die großen Fragen des Zusammenlebens

Vor mehr als 200 Jahren stellte der große deutsche Dichter und Denker Heinrich von Kleist die damals schier unglaubliche These auf, dass wir Menschen in unserer Rede nicht von uns geben, was wir uns zuvor ausgedacht haben, sondern dass uns die Gedanken erst kommen, wenn wir sie Dritten vortragen. Diese Beobachtung passte nicht in das damalige rationalistische Menschenbild. Sie überrascht sogar heute, lange nach der Entdeckung des Unbewussten, vieleLeser, wenn sie versuchen, den Titel des Buches der jungen Leipziger Neurowissenschaftlerin Franca Parianen zu verstehen:

„Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was sich sage?“. Der Satz geht allerdings davon aus,

  • dass meine Gedanken oft da sind, mir aber erst beim Reden bewusst werden,
  • wogegen von Kleist feststellte, dass die Gedanken erst mit ihrer Verlautbarung entstehen.

Parianen gewinnt ihre Erkenntnisse weniger aus der staunenden Beobachtung der Realität als aus den Studien der aktuellen Hirnforschung und der modernen Verhaltensforschung. Einen Einstieg in diese Grundlagen finden Sie in meinem Beitrag

http://www.essenspausen.com/unser-selbst-ist-doch-nicht-bloedmm/.

Wenn Sie sich – z.B. bei Wikipedia – mit dem Inhalt des kurzen Kleist’schen Aufsatzes vertraut machen, werden Sie feststellen, dass er damit Recht hatte, dass beim Reden Gedanken entstehen, die vorher einfach noch nicht existent waren.

Anders als auch in der sokratischen Philosophie, die im Diskurs eine Art Hebammentätigkeit sah, durch die das vorhandene und nur verborgene Wissen ins Bewusstsein gehoben wird, werden in der Rede vor Dritten Gedanken erst erzeugt.

Von Kleist hatte festgestellt, dass ungelöste Probleme, die auch durch intensive Versenkung in das Thema und durch Meditation keiner Lösung zugänglich gemacht werden konnten, im Vortrag vor Dritten auf der Basis vorhandener nur dunkler Vorstellungen und Gefühle plötzlich Struktur gewinnen und eine ganz klare und überzeugende Lösung erhalten. Die Situation der Rede vor Zuhörern zwingt den Redner zu einer erhöhten Konzentration. Die Erwartung des Hörers drängt dabei den Redner, Unfertiges zu Ende zu denken. Dies ist dann immer wieder auch ein Quell der Kreativität.

Wenn ein Gedanke dagegen schon fertig im Kopf existiert und nur wiedergegeben werden soll, gelingt das oft nicht gut. Mit dem Stress, das oft nur unter intensivem Einsatz der Geisteskräfte gesammelte Wissen richtig wiederzugeben, kollidiert der unwillkürliche Antrieb, in der Rede auch neue spontan aufkommende Gedanken zuzulassen. Manchem Redner gehen durch diese Überforderung zu leicht die gut durchdachten ursprünglichen Gedanken verloren.

Zu den überzeugenden Beispielen, die von Kleist nennt, kann man m.E. auch die Äußerung Williy Brandts vor  Beginn der ersten sozialliberalen Koalition in Deutschland rechnen, als er auf den Vorhalt, dass die CDU/CDU doch die stärkste Partei sei und daher den Kanzler stellen müsste, einen Satz sagte, der in solcher Situation früher nie gehört worden war: „SPD und FDP haben mehr als CDU und CSU.“

Von Kleist meint, dass die Sprache „mit Leichtigkeit zur Hand“ sein müsse, um Denken und Reden korrelieren zu lassen. Wer schneller sein Denken in Reden umsetzen könne, der führe „mehr Truppen ins Feld“ als sein Gegenüber. Eine gewisse Eleganz im Umgang mit den geistigen Anforderungen wird von den meisten Zuhörern tatsächlich geschätzt, nicht aber, wenn die Rede allzu glatt oder „wie gedruckt  rüberkommt oder vom Manuskript abgelesen wird.

Wer schnell und flüssig argumentieren kann, gilt eher als klug als der, dem man ansieht, dass er noch in der Rede selbst seine Gedanken findet. Dies berücksichtigen auch alle gängigen Intelligenztests. Interessanterweise sieht man das in Großbritannien traditionell grundlegend anders. Wer seinen Standpunkt mit wiederholten Pausen und schon fast stammelnd vorträgt, gilt als zerstreuter Professor, der eben seine Zeit braucht, um aus der Fülle seiner geistigen Möglichkeiten die besten Lösungen hervorzubringen.

Man muss nicht so etrem schnell reden wie der kritische Journalist Ken Jebsen (s. https://www.youtube.com/user/wwwKenFMde) oder wie der oft zu hastige Moderator Markus Lanz. Bei so viel Redetempo geht das besondere Gewicht der eigentlich hervorzuhebenden Tatbestände zu leicht unter. Der gegenteilige Trend unserer Zeit ist das Bemühen um Entschleunigung und das Lob der Langsamkeit, über die ich schon vor 5 Jahren hier geschrieben habe: http://www.essenspausen.com/wir-konnen-nicht-bis-drei-zahlen/